Biografie/arbeit
Iris Patsch, „ Der Ast“
Befreit von den Nichtigkeiten des Alltagslebens ergründet die Künstlerin Iris Patsch die Geheimnisse des Lebens in der Stille des Waldes. In der faszinierenden Textur der Äste, Moose, Flechten und Baumpilze erkennt sie Strukturen, die sich stets wiederholen, übertragen lassen und schließlich einen strukturierten Bauplan des Lebens ergeben. Aus organischen Materialien gestaltet sie im Atelier durch Umwickeln mit gefärbten Pflanzenfasern Ast-Plastiken mit überraschend eindringlichem Oberflächenreiz.
Unaufdringlich, bescheiden, sympathisch – so könnte man Iris Patsch mit drei Schlagworten beschreiben. Doch dahinter verbirgt sich viel mehr. Die in Pfunds lebende Künstlerin wurde im Dreiländereck Nordtirol-Südtirol-Graubünden sozialisiert. Heute wird diese Alpenregion als Terra Raetica vermarktet – eine aussagekräftige Bezeichnung, wie ich meine. Hier haben die alten Mythen überlebt, wird noch das rätoromanische Rumantsch (Bündnerromanisch) gesprochen, erinnert die italienische Version Val Venosta für Vinschgau noch an den Stamm der Venosten, die zum rätischen Kulturkreis gehörten. Hier haben wir es aber auch mit einer Tourismusregion und hochalpinen Schigebieten zu tun. Der Durchzugsverkehr der Reschenstraße plagt die Menschen, die an der Alpentransversale von Deutschland nach Italien wohnen. Die Umgebung prägt die Persönlichkeit. Wie ein „Teilzeit-Urmensch“ kommt sich Iris Patsch vor, wenn sie von ihrem Alltagsleben mit Computer und Auto in die Welt der Künstlerin springt.
Dann nämlich, sitzt sie stundenlang still im Wald oder auf einer Wiese und beobachtet, schaut die Pflanzen und das Kleingetier an, erkennt die Strukturen in Blättern und Zapfen, in Flechten und Moosen. Sie dreht einen Kiefernzapfen um, beachtet die spiralige Anordnung der schildförmigen Schuppen. Die Kiefer bzw. Föhre (lateinisch: Pinus, rumantsch: Dschember) ist eine anspruchslose Pflanzengattung. In Japan symbolisiert sie Stärke, Langlebigkeit und beständige Geduld. Welche Baumarten sich hinter den mit Fasern umwickelten Plastiken von Iris Patsch verbergen, ist mir nicht bekannt. Pinus wäre jedenfalls in den Wäldern des Dreiländerecks naheliegend. Um die Pflanzengattung geht es aber gar nicht, obwohl Iris Patsch über eine hervorragende Artenkenntnis verfügt und sich auch mit den Naturschutzverordnungen gut auskennt. Manche der Moose, Farne, Baumschwämme und Flechten, die sie für ihre Werke verwendet, könnten nämlich unter Naturschutz stehen. Es gilt darauf zu achten, dass keine geschützten Arten zu Kunst „verarbeitet“ werden. Sicher geht Iris Patsch, indem sie die Flechten ausschließlich von geschlägerten Bäumen abnimmt, mit Genehmigung des Waldaufsehers natürlich. Einer Person, die so tief in die Struktur der Pflanzen und Tiere eindringt, ist Naturschutz ein selbstverständliches Anliegen. Dass sie gleichsam als „Natur-Botschafterin“ angesprochen werden kann, bezeugen Anrufe von Personen, die ihr gefundene Naturobjekte bringen wollen. Die Kunstwerke, z.B. die frühen Schneckenbilder, haben die Menschen gelehrt, genau hinzuschauen, die Zeichnung der Tiere oder die Formen der Pflanzen detailliert wahrzunehmen.
In letzter Zeit beschäftigt sie sich fast ausschließlich mit Ästen, knorrige, glatte, verzweigte, Kurven bildende Äste. Der Ast ist also ein Objet trouvé (franz. für ‚gefundener Gegenstand‘). Die englische Bezeichnung Ready-made (engl. für „Fertigware“) erweist sich dabei weniger zutreffend, wenn auch die beiden fremdsprachlichen Begriffe in den deutschen Texten über Dadaismus und Surrealismus fast synonym verwendet wurden. Die Künstler beider Stilrichtungen haben das gefundene Objekt aus seinem Zusammenhang entnommen, „in Szene gesetzt“ und somit als Kunstwerk definiert. Das gefundene Objekt, meist handelte es sich um Alltagsgegenstände, wurde damit zu einem wichtigen Gestaltungselement erhoben, weil es dem Charakter des Zufälligen entsprach.
Das Gestaltungsprinzip des Zufälligen ist auch aus der Kunst von Iris Patsch nicht wegzudenken. Als „frei fließend“ bezeichnet die Künstlerin ihren Arbeitsprozess. Aus dem gefundenen Natur-Objekt entsteht ganz intuitiv das Kunstwerk. Der ästhetische Reiz dieser Ast-Skulpturen liegt in der Farbintensität und der Textur ihrer Umwickelung, aber auch in den Verzweigungen des gefundenen, natürlichen Astes – Verzweigungen, die an das Netz von Adern erinnern. Dieselben Muster erkennt Iris Patsch überall: bei den Ästen, bei den Blättern, bei Blitzen, beim menschlichen Blutkreislauf. Es sind die wiederkehrenden Strukturen, im Microkosmos wie im Makrokosmos, die die Künstlerin faszinieren.
Der Journalist Attila Haidegger bezeichnete Iris Patsch als „Verpackungskünstlerin“ und stellte sie damit in die Tradition von Christo (1935–2020) und dessen Frau Jeanne-Claude (1935–2009), die ab den 1960er Jahren mit spektakulären Verhüllungsprojekten in Landschaftsräumen, an Industrieobjekten oder berühmten Bauwerken bekannt wurden.
Wenn auch die mit gefärbten Pflanzenfasern umwickelten Äste einer Iris Patsch nicht dieselben Dimensionen erreichen, so scheut sie das Monumentale keineswegs. Ihre verzweigten Äste sind nicht selten raumübergreifend, was natürlich auch eine montagetechnische Herausforderung mit sich bringt. Die großen, scheinbar Wände durchwachsenden Astgebilde können nicht mehr in die Kunstgattung Plastik eingeordnet werden. Auf Grund ihrer Wechselwirkung mit der baulichen Situation, sind sie als Rauminstallation oder begehbare Environments anzusprechen. Es entstehen aber auch kleinere Werke, Plastiken, die auf den üblichen Ausstellungssockeln präsentiert werden können. Sie holt quasi den Baum in den Innenraum, deutet ihn – in Rot umwickelt – zur (Lebens-)Ader um. Aus der Verknüpfung von natürlich Gewachsenem (Ast) und Artifiziellem (Umwickelung) ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das verschiedene Interpretationen zulässt. Würde man hier nur den Gegensatz von Natur und von Menschenhand Gemachtem sehen, wäre das in jedem Fall zu kurz gegriffen. Mit hinein spielt die symbolische Bedeutung des Baumes. Gilt der Baum doch in vielen Kulturen als heilig und wird in Asien mit Bändern behängt, fußen die christlich adaptierten Legenden (wie die Serfauser Marienerscheinung im Baum) doch auf vorrömischen, also rätischen Mythen. Den Baum als Signet nehmen esoterische Zirkel ebenso wie die Kosmetik-Industrie für sich in Anspruch. Er ist zu einem ambivalenten Symbol geworden, das zwischen ursprünglicher Natur und gut vermarktetem Biobewusstsein hin und her pendelt. Der Baum als Symbol spielt auch in den Gedichten, die Bertolt Brecht im Exil geschrieben hat, eine Rolle. Die Äste von Iris Patsch übernehmen eine Stellvertreter-Rolle, stehen quasi wie ein Kürzel für den ganzen Baum. Jeder Baum in unseren Breiten trägt lebende und abgestorbene Ästen. Das Kunstwerk „Ast“ enthält gleichsam die metaphorische Bedeutung von Leben und Sterben als ewigen Zyklus.
Dr. Sylvia Mader